Was für eine Reise! Wer hätte gedacht, dass es mich von einer Straßenecke in Oberdorla in Thüringen einmal bis über den Atlantik nach Amerika führen würde. Bis in den Süden der USA nach Texas hinein!

Das Davidson College in North Carolina hatte mich eingeladen. Ich flog daher zunächst nach Charlotte. In Davidson wurde „Die Ecke“ in der Tyler Tallman Hall gezeigt. Ich war begeistert von der Gastfreundschaft des Colleges, den Fragen und der Neugierde der Studierenden, die mich in ihre Welt führten.

Danach reiste ich nach Dallas Fort Worth in Texas und dort holten mich Robert Culverhouse, der Protagonist der ECKE und sein Vater ab. Wir fuhren weiter mit dem Auto nach Eastland. An mir vorbei zog die weite Landschaft Texas und sie erklärten mir, dass das Gras sehr braun sei, weil dieser Sommer sehr heiß gewesen sei.

Dann erreichten wir Eastland, das nur ein paar Einwohner*innen mehr als Oberdorla hat, der thüringische Ort, wo ich den Film gedreht habe. Ich lernte Roberts Familie bei einem Abendessen m Haus seiner Eltern kennen, sie alle hatten viele Fragen. Zum Film, aber auch zu meiner eigenen Geschichte und meiner Familie. Als Dokumentarfilmen bin ich es gewohnt anderen Menschen Fragen zu stellen. Aber sie wollten wirklich etwas über mich wissen.

Eastland ist der Ort, aus dem Robert stammt: Robert V. Wynne, der amerikanische Soldat, der 1945, kurz vor Ende des Zweiten Weltkriegs, in Oberdorla gefallen ist. Für den ein großes steinernes Monument an der Straßenecke in Oberdorla steht.
Für mich war das immer ein fremder Name, obwohl ich ihn so oft während der Dreharbeiten gelesen hatte. Erst in Eastland kam ich diesem Menschen näher. Robert Culverhouse, der Großneffe dieses verstorbenen Soldaten, ist nicht nur nach ihm benannt, sondern bewahrt auch alle Hinterlassenschaften von Robert Wynne in seinem Haus in Texas auf. Nun sah ich all das, von dem er erzählt hatte, das erste Mal vor Ort.

Es war bereits ein Wunder, dass wir Robert Culverhouse während der Recherchen des Films in Texas ausfindig machten. Dass Robert bislang noch nie vom berühmten Foto an der Straßenecke in Oberdorla gehört hatte und erst durch unseren Film davon erfuhr, erschien wie eine glückliche Fügung. Dass etwas zusammen kam. Dass sich etwas neu verband. Auch abseits des Films, im Leben. Für ihn.

Dann reiste Robert mitten in der Pandemie von Texas nach Deutschland, um in dem Film mitzuwirken. Er nahm dabei alle Widrigkeiten damals im Jahr 2021, die mit Coronatests und Quarantäne einhergingen, auf sich. Für ihn war diese Reise nach Oberdorla, bei der er das Monument sah, das für den ersten Robert in der Familie an der Straßenecke aufgestellt wurde, sehr eindrücklich und emotional. Er traf auf Menschen, die 1945 bereits lebten, die den Krieg in Oberdorla erlebt hatten, als die Amerikaner einmarschierten. Er erhielt eine neue Perspektive auf die Geschehnisse.

Für den Film war dies ein echter Wendepunkt und auch ein Glücksfall, konnten wir doch so auf sehr menschliche Weise eine neue Verbindung zum Foto herstellen und erzählen, wie tief und weitreichend ein Krieg wirkt. Es war, als hätte sich der Schleier, der über dem Foto und dieser Straßenecke lag, auf neue Weise gelüftet.

Doch erst jetzt, mit meiner Reise nach Amerika – als ich in Eastland in Texas den Ort besuchte, aus dem Robert Wynne und Robert Culverhouse stammen, als ich die große und sehr herzliche Familie der beiden Roberts traf, verstand ich meinen Film erst wirklich. Erst jetzt begriff ich, welche Entfernung zwischen diesen beiden Kontinenten liegt, welche Verschiedenheiten es gibt und welche Gemeinsamkeiten der kleinen Orte Eastland und Oberdorla. „Du weißt gar nicht, was für ein Einfluss dieser Film auf uns hat“, sagte mir die Familie Roberts. „Was er für uns bedeutet.“

Ich habe auf neue Weise verstanden, wie Menschen in Amerika wie in Deutschland noch tief vom Krieg geprägt sind, der nun fast 80 Jahre her ist. Wie wichtig es ist, sich für den Frieden und immer wieder für ein neues Verständnis füreinander einzusetzen und dass Reisen wie diese dazu beitragen.

Ich werde nie vergessen, wie ein Mitarbeiter des Kinos die großen Buchstaben „THE CORNER“ am Majestic Theatre anbrachte. Wie herzlich, großzügig und interessiert mich die Menschen in Davidson und in Eastland aufgenommen haben. Wie der Film auf der großen Leinwand im Majestic Theatre lief, mit Cowboyhüten vor mir Publikum, das manchmal an ganz anderen Stellen lachte, als ich es vom deutschen Publikum her kannte.

Was für ein Wunder, dachte ich immer wieder, als dieser Film mitten im tiefsten Texas gezeigt wurde und dort etwas bewirkte. Die Geschichte des Films ging damit auf ganz ungeahnte Weise weiter – und es scheint, dass sie immer noch nicht aufhört.

 

Der Film „Die Ecke“ ist aktuell in der ARD Mediathek zu sehen.

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