erschienen in der Kolumne „Zwischen Menschen“, taz. die Tageszeitung, 19.7.2019

Am Kieler Hauptbahnhof liegt ein Stein an einem Baum, unscheinbar neben etwas Abfall im Kies. Ein Stein zum Übersehen. Ein Ding wie eins der tausend Dinge, die uns umgeben. Unsichtbar, bis es jemand sieht. Unbedeutend, bis ihm jemand Beachtung schenkt. Wir sind zu viert unterwegs. Meine Bekannte hat gerade den Stein gefunden. „Hier.“ Sie hebt ihn hoch. Der Stein ist bunt bemalt. Schön sieht das aus.

„#Küstensteine. Verstecke mich wieder“, steht auf der Rückseite geschrieben. Ein Stein, der wandert, der immer wieder neu gefunden werden soll. Sie gibt ihn mir: „Nimm ihn mit und verstecke ihn in Hamburg. Dann kann ihn jemand Neues finden.“

Meine Bekannte findet oft etwas. Sie wirkt wie ein Mensch, für den die Welt ein Museum ist. Ein Ort zum Staunen, in dem es alle Dinge, Orte und Menschen wert sind, ausgestellt zu werden, durch ein Licht beleuchtet. So wie wenn man in ein fremdes Land reist und alles Neue fotografiert. Sie findet auch das Bekannte besonders. Vielleicht findet sie deswegen so viel.
„Es findet mich“, sagt sie. „Es findet mich.“ Ein schöner Satz.

Alle wollen etwas finden. Einen Job, die Liebe, eine günstige Wohnung, ein neues Hobby oder ihre Ruhe. Die meisten sind nach etwas auf der Suche. Aber etwas zu suchen, heißt nicht unbedingt, für das Finden bereit zu sein.
Wir sind auf dem Weg zur Ostsee. Die Wiesen sind grün. Im Himmel schweben leichte Wolken. Wind weht. Es ist ein Tag zum Loslassen.

Wir laufen einen langen Steg entlang und betrachten die Segelboote, die hier anlegen. Als wir wiederkommen, fehlt einer von uns Vieren ihr Sonnentuch. Es muss ihr vom Kopf geweht sein. „Nicht schlimm“, sagt sie. Wir gehen weiter am Ufer entlang.
Meine Bekannte erzählt von „Hühnergöttern“, Steinen mit einem natürlich gebildeten Loch, die hier an der Ostsee liegen. Ich spüre, wie mein Blick auf das Ufer nun davon geprägt ist, so einen Stein zu finden. „Es ist oft besser, gar nicht mehr dran zu denken“, sagt sie. „Die Suche im Hinterkopf zu behalten, aber nicht darauf fokussiert zu schauen.“

Sich finden lassen. Ich schaue in die Ferne aufs Meer, dorthin, wo noch ganz viel liegt, was man von hier aus nicht sieht. Wer wirklich etwas Neues findet, hat auch losgelassen. Von einer Vorstellung, wer man ist oder was man braucht. Vielleicht findet man so erst etwas Neues über sich heraus.

„Serendipität“ heißt das Fachwort für die zufällige Entdeckung von etwas, nach dem man nicht gesucht hat. So stieß Columbus auf Amerika. Auch der Erfinder des Klettverschlusses suchte nicht danach, es fand ihn. Beim Spazierengehen verfingen sich im Fell seiner Hunde Kletten, er schob sie unter das Mikroskop und entdeckte Häkchen, die sich miteinander verbinden. Er entwickelte seinen Fund weiter und meldete ihn später zum Patent an.

Wir gehen weiter am Ufer entlang, reden, lachen – und dann mittendrin finde ich ihn, einen Hühnergott. Einen schwarz, weißen Stein mit einem Loch, den ich zuvor nicht beachtet hätte.
Sich finden lassen. Offen sein, nicht vorschnell bewerten. Wer den Stein als einen Stein wie tausend andere abtut, kann ihn nicht finden. Oft steht schon eine Meinung, massiv wie ein Berg vor dem, was wir finden könnten. Dieser Berg versperrt uns den Blick auf Menschen, auf neue Erlebnisse. Er verstellt die Möglichkeit, etwas zu finden, von dem man gar nicht wusste, dass es möglich ist.

Als wir vom Strand zurückgehen, laufen wir noch einmal den Steg zurück. Meine Bekannte will das Tuch finden, das uns verloren ging. Wir haben nicht viel Hoffnung, dass es der Wind nicht schon fortgeweht hat. Doch dann liegt es plötzlich da am Rand. Weiß und selbstverständlich, wie eine Bejahung von etwas. Dass Finden auch bedeutet, die Dinge nicht zu schnell loszulassen, etwas verloren Geglaubtes nicht sofort aufzugeben. Suchend bleiben, aber bereit sein für jeden Ausgang.

Am nächsten Tag lege ich den „Küstenstein“ aus Kiel auf einem Platz in Hamburg ab. Er liegt dort auf blauem Untergrund. So unauffällig, dass er leicht übersehen werden könnte. So sichtbar, dass er die finden kann, die sich finden lassen wollen.

Foto (Symbolbild): Christa Pfafferott

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