erschienen in der Kolumne „Zwischen Menschen“, taz. die Tageszeitung, 17.4.2020

Meine Stimmung ist umgeschlagen wie das Wetter. Seit Tagen ist es das erste Mal trüb. In den letzten Stunden ist durchgesickert, dass die Lockerungen der ­Corona-Maßnahmen auch nach Ostern begrenzt bleiben werden. Ich mache mir Sorgen um die große Welt und um viele kleine Welten.

In den letzten Wochen waren viele Menschen tapfer. Jetzt spüre ich stark, was ich vermisse. Lebendigkeit, Ungezwungenheit, Musik, Kinos, Kneipen. Freunde und Fremde. Ich mache mir Sorgen um unsere freiheitlichen Grundwerte. Um die Kinder, die so lange schon nicht mehr in die Kitas dürfen. Um Eltern und Selbstständige, die verzweifeln. Um Einsame. Ich mache mir Sorgen, dass es vor lauter Angst vor dem Tod zu wenig um das Leben neben dem Überleben geht. So vieles geht durch meinen Kopf. Ich muss raus.

Ich mache eine Radfahrt, allein. Doch ich komme nicht in Fahrt, weil ich den Weg oft für das Ziel unterbreche, nach der Route auf dem Handy suche. An einer Weggabelung bleibe ich stehen. Rechts in einer geteerten Straße vermute ich den richtigen Weg. Links führt der Weg hinauf in ein Waldstück. Von dort läuft ein älterer Mann auf mich zu: „Kann ich Ihnen helfen?“ In seiner Stimme klingt Sehnsucht nach Resonanz. „Wissen Sie, welcher Weg schöner zum Radfahren ist?“ Er zeigt hinauf zum Wald: „Der Pfad ist steil. Haben Sie Kraft? Wenn ja, fahren Sie hinauf.“

Ich habe Lust, dem Zufall zu vertrauen, und fahre in den Wald. Der Weg ist uneben. Die Kette springt ab. Ich bereue jetzt, dass ich mich habe verleiten lassen. Dann geht es noch steiler einen Hügel hinauf. Auf der Hälfte des Anstiegs steht eine Bank. Die Bretter der Sitzfläche sind abgesplittert. Ich steige ab. Ich habe plötzlich keine Kraft mehr. Ich setze mich. Die Pause tut gut. Ich schaue über eine Wiese. Um mich ist weit und breit kein Mensch. Es ist eigentümlich still. Ich lasse meinen Blick schweifen, schaue dann auf die Bank: Das kann nicht sein.

Neben mir liegt ein Stein. Darauf ist ein Wort geschrieben: „Durchhalten.“ Die Schrift zieht sich rund um eine gelbe Sonne. „Durchhalten.“ Der Stein wirkt wie eine Antwort. Als könnte jemand meine Gedanken lesen. Ich nehme den Stein in die Hand. Er ist glatt und rund. Die Person, die ihn bemalt hat, hat sich damit Mühe gemacht. Die Buchstaben sind golden vorgemalt, dann mit schwarzem Stift nachgezogen. Der Stein glänzt wie lackiert.

So viel Aufwand, um ihn an diesen einsamen Ort zu legen. Im Nirgendwo auf eine morsche Bank, ohne als Erschaffer je zu erfahren, was der Stein auslöst, ob er überhaupt gefunden wird. Der Stein will nichts. Ich wiege ihn in der Hand. Es rührt mich, wie er hier wie nebenbei abgelegt wurde. Auf der Hälfte des Weges. Für die Erschöpften, die den Hügel hinaufkommen. Genau an der Stelle, wo es am schwierigsten ist. Wo nicht mehr die Euphorie des Anfangs und noch keine Erleichterung durch das nahe Ziel zu spüren ist: Durchhalten.

Es ist schön, dass dieses Wort auf einer Form steht, die ich berühren kann, die wie eine Verbindung wirkt: Ich bin da, ich kenne dich. Ich weiß, was gerade in dir los ist. Nimm das. Halte durch.

Dann erst, nach Minuten, drehe ich den Stein um. Auf der Rückseite steht noch etwas: „Mut-mach-Stein gegen Corona“. Für einen Moment habe ich Gänsehaut. Plötzlich, allein hier draußen, fühle ich mich verbunden mit der Welt und der Person, die ihn hier abgelegt hat.

Ein Satzfetzen klingt in meinem Kopf – „…, der werfe den ersten Stein“, Worte aus der Bibel. Der Tod durch Steinigung. Er geschieht gemeinschaftlich durch viele einzelne, die einen Stein werfen. Jeder macht sich verantwortlich. Vielleicht ist es andersherum genauso: Belebung wird geschaffen durch einzelne, die einen Stein ablegen. Ich spüre nun auch Aufforderung: Durchhalten. Aber auch Haltung zeigen. Nicht nur Opfer der Umstände sein. Etwas bewegen. Sei es mit einem einzigen Stein.

Ich möchte den Stein weitertragen und stecke ihn ein. Der Weg ist nun schwerer, doch etwas ist auch leichter. Das letzte Stück hinauf denke ich, dass ich selbst einen Stein bemalen und ablegen möchte. Wo auch immer das ist. Was auch immer das ist. Es gibt viele Weisen, einen Stein zu bemalen.

Foto: Christa Pfafferott

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