erschienen in taz.die tageszeitung, 27.2.2018

Text: Christa Pfafferott

Geschafft! Außer Atem fahre ich aus Glückstadt fort. Nur einmal die Stunde fährt die Nordbahn von hier nach Hamburg. Ich bin froh, dass ich sie gerade noch erwischt habe, draußen ist es kalt. Ich stelle mein Rad ab, die Bahn ist seltsam leer. Nur weit hinten spricht jemand in ein Telefon. Ich lasse mich in ein Viererabteil fallen. Meine Lunge brennt vor Anstrengung.

Drei Minuten später hält die Bahn am Bahnhof Herzhorn. Ein junger Mann in einer neongelben Jacke, wie sie Straßenarbeiter tragen, geht den langen, leeren Gang entlang bis er vor mir hält. Er trägt orthopädische Schuhe, sein Gesicht ist schmal, die Augen liegen hinter dicken Gläsern.
„Ach, ich setz mich mal zu Dir“, sagt er fröhlich und lässt sich mir genau gegenüber auf den Sitz sinken:
„Warum gerade hier,“ frage ich, noch dabei die Schuhe auszuziehen, um meine Beine auszustrecken. „Die ganze Bahn ist doch leer.“
„Ach so, entschuldige“. Er klingt auf einmal beschämt, als wäre er Abweisung gewohnt und setzt sich in das Vierer-Abteil nebenan. Seine Artikulation ist schleppend, seine Bewegungen sind abrupt. Er sitzt nun parallel zu mir und schaut herüber.

„Du siehst müde aus“, sagt er auf einmal. „Kannst ruhig schlafen.“
Ich lächle. Ich will ihn nicht brüskieren aber auch kein Gespräch beginnen.
„Nein, ich lese“, sage ich und klappe ein Buch auf, mit dem ich mich ins Alleinsein verstecken will.
„Aber wenn Dir die Augen zufallen“, kommt die Stimme von rechts, „dann klappe ich das Buch zu und lege es weg. Ich wecke Dich, wenn ich aussteige. Ich fahre bis Pinneberg.“
Ich lächle höflich und versuche mich aufs Lesen zu konzentrieren.
Wieder die Stimme: „Kannst Dich auf mich verlassen. Ich pass auf. Schlaf jetzt. Versuch es doch mal“.
„Aber warum soll ich denn schlafen“, frage ich.
„Du siehst so erschöpft auf. Ruh dich doch ein bisschen aus.“

Er klingt wie ein Vater, eine Mutter, wie jemand, der über ein tiefes Wissen verfügt.
„Aber ich will garnicht schlafen“, entgegne ich.
„Nicht immer nein sagen“, sagt er.

Helles Winterlicht fällt auf die leeren Sitzreihen. Links und rechts liegt Weite. Ich komme mir für einen Moment wie in einem surrealen Film vor, wie in einer Traumszene. Als wäre der Mann in seiner neongelben Jacke eine Art moderner Engel, etwas anderes als er selbst, ein Symbol für etwas, eine Antwort.
Kurz überlege ich, mich seinem Impuls hinzugeben, spüre tief in mir wie am Grund eines Brunnens Müdigkeit. Dann überlege ich, ob ich sicher bin mit ihm in der leeren Bahn. Was für eine fixe Idee treibt ihn an, eine Frau beim schlafen bewachen zu wollen?

„Wirklich“, sagt er. „Schlaf jetzt. Das tut dir gut.“ Es bedrückt ihn richtig, dass ich mich nicht erholen will, dass ich immer noch lese.

Dann kommt Pinneberg. Er startet einen letzten Versuch: „Ich kann noch bis Hamburg weiterfahren. Dann schläfst Du das letzte Stück, und ich wecke Dich auf.“
„Nein, steig mal besser dort aus, wo Du aussteigen wolltest“, sage ich.
„Ok“. Seine Stimme klingt resigniert. Er hat alles gegeben, jetzt hat er verloren. Die Bahn stoppt. Er humpelt hinaus. Es macht mich auf einmal traurig, dass ich ihm nicht erlaubt habe zu behüten, dass ich ihm die Rolle abgesprochen habe.

Die Bahn fährt los. Im Vorbeifahren winke ich ihm. Begeistert reckt er seinen Arm zum Gruß, zeigt wieder die Kraft, mit der er sich mit allem, was er hat, ins Leben wirft.

Als er fort ist, spüre ich Bedauern, den Mut zu etwas Wesentlichem nicht aufgebracht zu haben. Wieviel verloren geht dabei, denke ich auf einmal, Menschen mit einer Beeinträchtigung nicht richtig zuzuhören, sie nicht ernster zu nehmen. Warum werden sie so schnell aussortiert? In Heime, aus dem Berufsleben, mittlerweile werden sie ja oft garnicht mehr erst geboren. „Mach jetzt, werd was, verbesser dich, nutze Deine Chance, just do it.“ Schlaf jetzt. Er wollte etwas ganz anderes. Es ist so einfach: In einer leeren Bahn setzen wir uns zueinander. Wer müde ist, muss schlafen. Zum Abschied winken wir uns.

Der Zug hält in Hamburg. Ich fahre nach Hause. Es ist 18 Uhr. Ich ziehe die Vorhänge zu und lege mich ins Bett. Sofort schlafe ich tief und fest ein.

Foto: Ausschnitt aus ©taz

6 comments

  1. Jeffery Reply Freitag, der 2. März 2018 at 23:14

    Wunderschön geschrieben und ein tolle Alltags Geschichte…

    • Christa Pfafferott Reply Samstag, der 3. März 2018 at 13:24

      Lieber Jeffery, ganz herzlichen Dank! Deine Rückmeldung freut mich sehr. Beste Grüße!

  2. Rita Reply Sonntag, der 4. März 2018 at 17:57

    Ein richtig berührender Text, vielen Dank!

    • Christa Pfafferott Reply Montag, der 5. März 2018 at 07:34

      Liebe Rita, das freut mich. Danke!

  3. Ann-Kristin Reply Montag, der 5. März 2018 at 12:28

    Ich kann ganz genau nachempfinden, wie es Ihnen ergangen ist, bei mir wäre es wohl ähnlich verlaufen – zwar lasse ich mich (meistens gerne) auf praktisch alle Gespräche ein, die sich in der freien Wildbahn so ergeben können, aber tatsächlich ist das mit dem Einschlafen in Gegenwart eines Unbekannten (und auf „Aufforderung“ hin) doch etwas schwierig. Wobei die Tatsache, dass es sich hier um einen Menschen mit einer – wie auch immer gearteten – Behinderung handelt, eigentlich eher beruhigend wirkt, meistens stecken da weniger Hintergedanken … Aber schön, dass Sie gewunken haben 🙂

    • Christa Pfafferott Reply Montag, der 5. März 2018 at 20:13

      Vielen Dank für den Kommentar und die Schilderung der eigenen Gedanken. „Behinderung“ würde ich es wohl weniger nennen, weil sich die Menschen, die so genannt werden, selbst ja oft garnicht behindert fühlen. Auch für mich ist es herausfordernd da den passenden Ausdruck zu finden. In jedem Fall glaube ich auch, dass gute Absichten dabei waren und finde es immer wieder gut, sich so auszutauschen, um sich eben nicht vorschnell abzuschotten. Bei den nächsten Begegnungen weiterhin alles Gute und beste Grüße!

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