erschienen in der Kolumne „Zwischen Menschen“ in taz. Die Tageszeitung, 3.11.2023

Draußen nieselt es, drinnen in der Apotheke staut sich die Warteschlange vor dem Tresen. Eine ältere Frau mit langem, dünnem Flechtzopf und kleinem Hund verzögert den getakteten Fluss von fragenden, zahlenden und wieder gehenden Menschen. Die Frau redet mit der Apothekerin lange über ein Medikament, das nicht mehr hergestellt wird. Die Apothekerin zeigt ihr ein anderes Medikament.

„Hoffentlich wird es damit besser“, sagt die Frau mit dem Flechtzopf. Ihr Sprechen über sich wirkt so, als wollte sie damit weitere Fragen bei der Apothekerin über sich intendieren. Was denn besser werden solle. Was denn jetzt schlecht sei. Dann möchte die Frau noch etwas aufgeschrieben bekommen. Sie erscheint wie ein Mensch, der selbstverständlich viel Zeit für sich beansprucht. Die Schlange hinter sich scheint sie nicht wahrzunehmen.

„Mich kriegt man nicht klein“, sagt die Frau. Sie verwendet eine Sprache des Kampfes. Die sich gegen einen unbestimmten Gegner richtet. Ein Leben, das auf Verteidigung gebaut zu sein scheint. Die Apothekerin bleibt freundlich, doch hinter ihrem Lächeln wird etwas starr.
„Das gibt es ja nicht mehr“, benennt die Kundin immer wieder das eine Medikament, das sie nicht mehr bekommt. Als könnte sie den Verlust darüber noch nicht loslassen. Es ist ja auch hart. Ein Medikament zu finden, was einem hilft, und es dann plötzlich zu verlieren.

Doch in der Schlange, in der jeder einzelne Mensch eine Geschichte hat, breitet sich Unruhe aus. Auch bei mir nehme ich in letzter Zeit eine Ungeduld wahr, Menschen wie der Frau zuzuhören, die lamentieren, auf Negativem herumreiten, sich für zu kurz gekommen halten und das von etwas Unbestimmtem herleiten, was ihnen, den Opfern, unrecht tut. Ich spüre den Impuls abzuschalten bei Menschen, die sich selbst als Nabel der Welt betrachten. Dabei ist es die Welt drumherum, die gerade Beachtung braucht, die aus den Fugen hängt.

Auch im gesellschaftlichen Umfeld bemerke ich eine Stimmung, dass es viel ist. Der Krieg in der Ukraine, der Krieg im Nahen Osten. Die Zusammenhänge, die unverständlich werden. Dass es keine Atempausen zwischen den Krisen gibt. Es ist anstrengend, das alles zu verarbeiten. Die eigene Position zu finden. Anderen Positionen zuzuhören, sie auszuhalten, auch wenn man anderer Meinung ist. Die Widerstandskraft schwindet, sich abstruse Vorwürfe anzuhören.

Die Frau redet weiter über ihr Medikament, das es nicht mehr gibt. „Das haben wir der Regierung zu verdanken“, sagt sie. „Nein, das ist nicht so“, sagt die Apothekerin ruhig, aber bestimmt.
„Das hat sich über Jahrzehnte entwickelt. Das hat nichts mit der Regierung zu tun. Es ist so, dass man sehr vieles nur noch über das Ausland bekommt. In Deutschland wird nur noch sehr wenig hergestellt.“

Die Frau mit dem Flechtzopf stutzt etwas. „Ja, das ist schlimm. Hoffen wir, dass es anders wird“, sagt sie. Ich blicke auf die Apothekerin, die sich trotz allem die Zeit nimmt, auf die Vorwürfe einzugehen. Die die Energie aufbringt, die Sätze aufzunehmen, sich involvieren zu lassen. Ich denke daran, dass Apothekerin ein Heilberuf ist. Dass es vielleicht auch darum geht, beim Herausgeben von Medikamenten mit Sätzen zu helfen. Es heißt, dass es ein Apothekensterben gibt. Dass viele Apotheken schließen und nicht genügend Nachfolge gefunden wird. Darüber lamentiert die Apothekerin nicht.

„Ich wurschtel mich durch“, sagt die Frau mit dem Zopf: „Ich wurschtel mich durch.“ Sie nimmt ihren Hund, sie verabschiedet sich, auf einmal unbestimmt heiter gestimmt.
„Gut, dass sie etwas gesagt haben“, sage ich später zu der Apothekerin. „Vielleicht entstehen auf diese Weise keine Verschwörungstheorien.“ Die Apothekerin blickt mich kurz an, als wäre sie verdutzt, dass sie von anderen gehört wurde auf ihrer Bühne des Alltags. Sie lächelt, als wäre es gar nichts Besonderes, dem Unfrieden aus der Schlange wirklich zuzuhören.

Foto (Symbolbild): Christa Pfafferott

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