erschienen in der Kolumne „Zwischen Menschen“, in taz. die Tageszeitung, 15.5.2020

Ein Platz. Ein Fenster, daraus wird Eis gereicht. Vanille, Erdbeere, Karamell. Die Leute stehen an. Zwei Meter. Ein Mensch. Zwei Meter. Mit Eis auf der Zunge gibt es kein schöneres Früher oder besseres Später. Nur Erdbeere, Vanille. Sonnenlicht. Ein Tag, der in bester Ordnung scheint.

Ein Mann hat kein Eis in der Hand. Er trinkt ein Bier, trägt einen Strohhut. Er lächelt verschmitzt. Er sieht aus wie ein Abenteurer, ein Überlebender wie in den Weltuntergangsfilmen, den es auf wundersame Weise nie erwischt. Der wie eine Katze auf alle vier Pfoten fällt.

Um den Mann läuft ein Hund, mittelgroß, mit braunem, zotteligem Fell. Der Mann schaut den Hund an und den Platz, als würde er sich ein Bild ansehen. Als hätte er einen inneren Abstand zu all dem Abstand um ihn. Sein Hund läuft im Kreis. Die ganze Zeit. Eine Runde um die nächste, er weicht den Menschen aus, kommt an sie heran, läuft zum Mann und wieder von ihm fort. Der Mann schüttelt den Kopf, lacht: „Der Hund ist verrückt geworden“, sagt er.

„Seit ein paar Wochen ist das so. Seitdem das mit Corona ist. Der spürt die Angst der Leute. Dass die Menschen anders sind, dass sie sich komisch verhalten.“ Der Hund dreht eine weitere unruhige Runde. Ein Lauf ohne Ziel, als wolle er etwas suchen und gleichzeitig loswerden. Dabei ist doch auf dem Platz gerade alles gut. Aber nichts ist gut. Der Hund läuft im Kreis. Der Hund dreht durch.

„Normalerweise ist er nicht bissig“, sagt der Mann. „Aber jetzt schnappt er manchmal. Die Hunde, die schmecken das. Tiere spüren die Atmosphäre.“ Der Hund schnüffelt auf dem Boden, zuckt mit dem Kopf. „Der Hund ist von meiner Freundin. Als sie gestorben ist, habe ich ihn übernommen. Ich wollte ihn eigentlich nicht. Aber ich wollte ihn auch nicht ins Tierheim geben. Da hätten sie ihn bald eingeschläfert.“

Ein anderer Mann kommt hinzu. Der Mann mit dem Hut erzählt wieder von seiner Freundin, dem Tod, dem Hund, der seit dem Virus die Angst spürt. So entspannt er wirkt, so sehr scheint es ihn doch zu beschäftigen, was mit dem Hund ist, seinem Gefährten. Der nun wie ein Seismograf auf die feinstofflichen Schwingungen reagiert. Wie Kanarienvögel, die früher mit in die Minen genommen wurden, weil die Arbeiter durch ihr Verhalten früher bemerkten, wenn der Sauerstoff knapp wurde. Was für eine Gefahr nimmt der Hund gerade wahr?

„Er ist ’ne Straßenkötermischung“, sagt der Mann. „Der ist irgendwo auf der Treppe gezeugt worden.“ Er grinst. „Er ist 15 Jahre alt. Lang lebt er nicht mehr.“ Was wird mit dem Mann sein, wenn der Hund stirbt? Der Hund, der die letzte lebendige Verbindung zu seiner Freundin ist. Er läuft ja jetzt schon fort vom Mann. Als würde er nach einer neuen Verbindung suchen. Wie ein Handy, das den Empfang ortet und ortet und doch nirgendwo andockt.

Es gibt Untersuchungen zu einem sogenannten morphogenetischen Feld, das alle Lebewesen miteinander verbinden soll. Dass sie unabhängig voneinander Schwingungen spüren und sich deswegen über Distanzen hinweg ähnlich verhalten. Der Hund wirkt wie ein Symp­tom dieser unsichtbaren Atmosphäre. Die Nähe zwischen Mensch und Mensch ist gestört. Die Codes, die Körpersprache, die Alltagsrituale, auf die wir uns verlassen konnten. Die Körper ordnen sich nun anders im Raum. Unsere Mimik ist verdeckt. Wie „ver-rückt“ uns das alles wirklich? Wie sehr? Und wie nachhaltig?

Vielleicht irritiert den Hund ja weniger, dass sich die Menschen anders verhalten, sondern vor allem, wie sie sich „zu-einander“ verhalten. In den letzten Wochen haben die Maßnahmen ein neues soziales Korrektiv geschaffen. Menschen beginnen sich gegenseitig in ihrem Verhalten zu korrigieren, und auch zu denunzieren, wenn sie nicht den Codes entsprechen. Das Virus breitet sich aus, auch wenn wir das Virus nicht haben. Wir haben uns alle mit seinen erweiterten Symptomen angesteckt.

Der Hund macht noch größere Runden. Er hört nicht mehr auf den Mann. Der Hund, von dem es heißt, dass er der loyalste Freund des Menschen sei, entfernt sich. Der Mann trinkt sein Bier, er lächelt, als würde er es akzeptieren. Er lässt ihn, er korrigiert ihn nicht. Als spürte er, es ist Zeit, dass der Hund so lebt, wie er leben will.

Foto (Symbolbild): Christa Pfafferott

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