erschienen in der Kolumne „Zwischen Menschen“, taz. die Tageszeitung, 25.5.2018

Der Himmel über dem Bahnhof ist milchig, trüb. Möwen fliegen. Erste Bettler richten sich auf dem Vorplatz ein. So früh ist es noch still. Der Bahnhof erscheint ohne Menschen wie ein Ort, dessen Wesen man in Ruhe kennenlernen kann. Der Zug fährt ein, in Weiß und Schwarz, mit einem einzelnen warmen Licht an der Spitze, mehr wie ein Zug aus einem Kinderbuch als ein Transportmittel.

„Hamburg til Koebenhagn“ steht in der Leuchtanzeige im Zug. In Puttgarden wird er für die Überfahrt nach Dänemark in einen Schiffsbauch fahren. Ein ganzer Zug in einem Schiff. Auch das wirkt wie eine romantische Erzählung.

Schräg vor mir sitzt eine Frauengruppe im Viererabteil und unterhält sich gut gelaunt auf Dänisch. Neben mir telefoniert eine Frau mit Dauerwelle in einer osteuropäischen Sprache.
Wir fahren an Birken und Feldern vorbei, der Himmel wird weit und blau. In mir steigt Vorfreude auf das Meer und Dänemark auf. Dann, unmerklich, spüre ich vorn im Zug eine Veränderung, als wäre eine neue Luft in die Gänge geweht. Die Gesichter der Menschen spannen sich an, einige schauen höflich, andere verärgert. In den Zug sind deutsche Zollbeamte gestiegen:

Sie sind zu zweit, vorn läuft einer in Zivil, dahinter einer in Uniform: Bad Cop, Good Cop. Als sollte der in Zivil auflockern, der in Uniform einschüchtern. Sie suchen nach Verbotenem. Der Zivilbeamte sagt immer wieder den gleichen Satz: „Welches Gepäck?“ Alle Reisenden müssen auf ihr Gepäckstück zeigen. Ein Blick ins Gesicht, einer zur Tasche. Meistens sagt der Zivile „Okay“, manchmal will er hineinsehen. Es ist undurchsichtig, nach welcher Ordnung dies geschieht.

Bei mir nicken sie, die Frau neben mir muss ihren Koffer öffnen. Umständlich holt sie einen rosa Hartschalenkoffer herunter. Vor den Augen aller soll sie ihn in den Gang legen und aufklappen. Ich schaue weg, dann wieder kurz hin. Auch den anderen geht es so. Augenpaare auf ihrer Wäsche, auf Schokolade, einem Parfüm-Flacon, den sie öffnen muss. „Okay“, sagt der in Zivil schließlich. Sie schließt den Koffer und wuchtet ihn hoch. Sie flucht dabei, als sollten die Beamten das hören. Etwas Unabhängiges, Starkes geht von ihr aus.

„Nach welchen Kriterien suchen Sie eigentlich?“, frage ich den Beamten, bevor er geht.
Er lächelt; „Stichproben“, als würde das alles erklären. Als sie weg sind, sehe ich, dass die Frau rote Flecken im Gesicht hat. Sie wirkt jetzt verletzt, aufgewühlt. Auf einmal spüre ich eine Distanz von ihr zu uns Reisenden, die wir nicht verdächtigt wurden.
Sie ruft jemanden an und spricht so aufgelöst, als wäre sie überfallen worden, als sollten sie alle hören: Hört her. Das bin ich.

Bevor wir Puttgarden, die letzte Station vor dem Meer erreichen, laufen wieder Männer durch die Gänge. Diesmal sind es Polizisten. Sie tragen schwarze Uniformen mit gelben Zeichen auf den Parkas. „Passports“, sagen sie unfreundlich.

Ich ziehe meinen Personalausweis heraus, die Frau neben mir zeigt einen bulgarischen Pass. Erst als sie weiter sind, setzt die Irritation ein: Das ist doch Europa. Hier sind doch Schengen-Abkommen, offene Grenzen. Nein: Die dänische Regierung hat Anfang 2016, als die Geflüchtetenzahlen stiegen, wieder Grenzkontrollen eingeführt. Seit zweieinhalb Jahren wird nun kontrolliert. Ich sehe durch das Fenster, wie die Beamten auf dem Bahnsteig einen dunkelhaarigen Jungen abführen. Er schaut starr auf den Boden. Ein Schicksal hinter Glas.

Der Zug rollt weiter, fährt quietschend über Schienen auf die Fähre. Die Reisenden werden gebeten, den Zug während der Überfahrt zu verlassen. Durch enge Treppen laufen wir in das Schiff hinauf, strömen auf das Aussichtsdeck, hinein in die Restaurants und Duty-Free-Shops. Vergessen, wer nicht mit konnte. Verdrängt, was unbehaglich stimmte. Was, wenn wir Gewollten auch nicht mehr wollen würden, wenn wir sitzen blieben bis alle mit dürften. Wenn ein ganzer Zug ins Schiff passt, dann muss es doch auch Platz für die geben, die eben aussteigen mussten. Auf einmal wird mir der Effekt meiner passiven Zustimmung bewusst. Jede neue Grenze stärken wir mit, wenn wir sie übertreten.

Das Schiff fährt los. Um uns Wellen und Wolken, vor uns das europäische Nachbarland, das, statistisch betrachte, eines der glücklichsten Länder der Welt ist. Dort ist Wohlstand und Frieden. Dort ist Europa. Das ist nicht Europa. Die größte Errungenschaft der europäischen Idee wird hier mit jeder Passkontrolle aufgegeben.

→ Mehr Blog-Beiträge: Hier geht’s zur Kolumne „Zwischen Menschen“

Foto (Zug auf Fährüberfahrt nach Dänemark): © Christa Pfafferott

2 comments

  1. Frau Vau Reply Dienstag, der 29. Mai 2018 at 12:41

    Was ist die Konsequenz? Keine Grenzen mehr übertreten?
    Was kann man, was kann ich ganz konkret tun?
    Hat jemand Ideen?

    • Christa Pfafferott Reply Dienstag, der 29. Mai 2018 at 16:53

      Danke für Ihren Kommentar. Je nach Überzeugung kann jeder Mensch natürlich etwas tun, z.B. sich in einer demokratischen Partei, in Verbänden engagieren oder auf anderem Wege auf gesellschaftliche Umstände aufmerksam machen, die einem nicht gerecht erscheinen. Ich möchte hier keine konkreten Ratschläge zu geben. Ich freue mich aber, wenn der Text z.B. Anstoß dazu gibt, sich bewusst zu machen, dass man eine neue Grenze nicht als gegeben nehmen muss, dass die eigene Stimme durchaus Wirkung hat, wenn man sie einsetzt.

Kommentar hinterlassen

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

Go top