Eine Dosis Hoffnung – taz
erschienen in der Kolumne „Zwischen Menschen“, in taz. die Tageszeitung, 5.3.2021
Vor zwei Wochenenden wollte ich morgens in dem Park joggen, der mein Zuhause ist, den ich vom Laufen und Spazierengehen, durch alle Jahreszeiten und seit vielen Jahren kenne. Ich wurde am Tor von einem Schild mit neu eingeführter Maskenpflicht überrascht. Ich hatte keine Maske dabei. Ich lief wieder nach Hause. Die Plötzlichkeit, mit der ich nicht in den Park konnte, betrübte mich in dem Moment. Das Wetter war grau und die Pandemie erschien wie ein langer, unbestimmter Weg, dessen Ende sich immer wieder verschob.
Doch so vieles kann sich schnell ändern. Und oft, wenn man den Eindruck hat, dass sich nichts bewegt, wandelt sich gerade dann alles um einen herum. Es verändert sich im Verborgenen. So wie sich im Winter längst schon innerlich alles unter den toten Ästen und der harten Erde entwickelt, ohne dass wir es sehen. Und dann steht man staunend vor den ersten Blüten und fragt sich: Wo kommt das jetzt her? Wie konnte das so schnell geschehen?
Diese Woche war ich wieder im Park. Die Sonne schien, ich saß auf einer Bank und las. Um mich herum saßen die Menschen jeweils einzeln auf ihren Bänken. Corona hat etwas Besonderes geschaffen. Wir ziehen uns alle in unseren Raum zurück. Unser Radius wird enger und gleichzeitig brauchen wir mehr Platz. Jeder braucht jetzt eine Bank für sich, um genug Abstand zu halten.
Plötzlich schauten alle in den Himmel. Dort musste ein Flugzeug Kondensstreifen gemalt haben. Viele kleine Kondensstriche standen in der Luft, die zusammen die Worte eines neuen Video-on-Demand-Dienstes bildeten. Die Schrift stand lange unbeweglich im Himmel und löste sich nicht auf. Als wäre die Werbung fest in die Luft gestanzt worden.
Mir fiel ein, dass gar keine Kondensstreifen mehr zu sehen sind, seitdem weniger Flugzeuge fliegen. Der weite Himmel ohne die Spuren des Reisens. Dafür jetzt mit Spuren der Werbung. Was noch alles mit dem Raum passieren würde, fragte ich mich. Was verändert sich um uns, ohne dass wir es spüren?
Da kam eine ältere, etwa 80-jährige Dame auf mich zu. „Darf ich mich zu Ihnen setzen“, fragte sie. Ich sah sie an. Die Frau war klein, etwas Zackiges, Energisches umgab sie. Ich hätte sie gern neben mir gehabt. Doch die Bank war nicht lang. Wenn wir hier nebeneinandersäßen, würden wir nicht 1,50 Meter Abstand zueinander halten können. Ich überlegte schon die Bank für sie zu räumen: „Haben Sie denn keine Angst, dass ich sie anstecken könnte?“, fragte ich sie.
Ohne zu antworten, setzte sich die Frau ganz selbstverständlich hin. Sie schien keine Erlaubnis zu brauchen. „Ich bin geimpft“, sagte sie dann. Sie lächelte fein. Sie wirkte fast stolz.
„Ich bin geimpft.“ Der Satz schien alles für sie zu bedeuten: Ich bin geimpft. Lassen Sie mich heran. Ich bin gewappnet. Es ist vorbei. Ich schaute sie an, wie sie da auf der Bank saß und sich die Sonne ins Gesicht scheinen ließ. Wie sie sich an mich herantraute und sich selbstverständlich ihren Platz nahm. Sie schien gar nicht sprechen zu wollen. Sie wollte hier einfach sitzen. Da sie weniger Abstand brauchte, erweiterte sich ihr Raum. Sie konnte wieder in die Nähe kommen.
Es hatte etwas Hoffnungsvolles, wie sie sich benahm. Das erste Mal nahm ich konkret wahr, was Impfungen verändern können. Wie sich das Verhalten eines Menschen damit wandelt. Ich stellte mir vor, wie es sein würde, wenn viele Menschen so wie die Frau sein würden. Was dann wieder möglich wäre. Was dann damit wieder anfinge.
Schließlich erhielt ich einen Anruf und stand auf. Ich ging telefonierend durch den Park. Als ich zum Ausgang steuerte, sah ich die Frau wieder. Sie saß nun auf einer anderen Bank – neben einem anderen Menschen. Ich musste lächeln. Es war, als würde sie die Nähe suchen, den Kontakt, wie ein Kind, das ein Geschenk bekommen hat und es nun ausprobieren will. So vieles ändert sich um uns. Auch wenn wir glauben, dass nichts geschieht, ist schon längst etwas im Prozess. Klein und unsichtbar schiebt sich langsam etwas nach vorn.
Foto (Symbolbild): Christa Pfafferott