Fremd-vertraut – taz

erschienen in der Kolumne „Zwischen Menschen“, taz. die Tageszeitung, 30.8.2019

Drüben sind sie ausgezogen und haben ihren Alltag mitgenommen. Die Fremd-Vertrauten von Gegenüber. Der Blick aus dem Fenster war der Blick auf sie. Ihren Balkon, ihre Gewohnheit. Man kannte sich, ohne sich nah zu sein. Teilte das Leben durch die Jahre. Es war sicher, wann sie das Licht löschten. Wie sie den Balkon nutzten.

Der Mann saß abends nach der Arbeit alleine dort. Das war die Zeit für ihn. Später, kurz vor der Dunkelheit, setzten sie sich zu zweit zusammen. Irgendwann war ein Kind dabei. Im Frühling legten sie es in Windeln auf eine Decke auf den Balkon, als sollte es den ersten Wind spüren. Nach der Geburt pflanzten sie mehr Blumen, als wollten sie ihre Freude auch nach außen zeigen. Ihr unbekanntes Leben zeigte sich in seinen Rändern im Hof, lief parallel zu den anderen Leben, die sich in den großen Mietshäusern stapeln. Zu Wohnung auf Wohnung. Balkon auf Balkon.

Und dann plötzlich waren sie fort. Einfach verschwunden. Als wäre ihnen keiner der unsichtbaren Blicke, der unbekannten Fensterbilder wichtig gewesen. Sie gaben nicht Bescheid, als sie gingen. Dabei war die Sicht auf sie über Jahre ein gewohnter Halt.
Und fremde Menschen zogen ein. Die Neuen öffnen die Fenster auf andere Weise. Sie lassen sie nicht auf Kipp, sie stoßen sie ganz auf. Sie ziehen die Vorhänge zu fremden Zeiten auf. Sie pflanzen große Blumen. Sie lassen ihr Licht bis spät brennen, sitzen lang auf dem Balkon, schwarze Umrisse im Sonnenuntergang.

Wo sind die alten Gegenüber, wem zeigen sie sich nun? Sie fehlen. So unbekannt gehörten sie zum eigenen Leben. Nicht nur die Wohnung ist das Zuhause, sondern auch der Blick auf das, was man von zu Hause aus sieht.
Dann passierte etwas. Ein Sommerfest im Hof: Die Neuen kommen hinunter. Ja, sie sind die von Gegenüber. Sie geben die Hand, laden ein auf ihren Balkon. Aus dem Blick zu ihnen wird eine Begegnung. Es ist leicht.

Schräg unter den Neuen wohnt eine ältere Frau. Sie sitzt den ganzen Tag am Fenster. Von morgens früh bis abends geht ihr Blick hinaus zum Hof. Zu Wohnung über Wohnung, Balkon über Balkon.
Sie raucht viel, sie hustet laut. Ein tiefer, ungesunder Husten, den sie in den Hof hinausschleudert. Sie ruft mit heiserer Stimme zu den Kindern, manchmal wirft sie Münzen zu ihnen hinunter. Die meisten aus dem Hof hasten vor ihrem einsamen Blick in ihre Wohnung. Wenn sie jemanden zum Stehenbleiben bringt, hat sie viel zu erzählen.

Dann auf einmal wird der Husten der Frau härter. Sie sitzt weniger am Fenster und wenn, sieht sie traurig aus. Dann plötzlich ist sie fort.
Sie hat nicht Bescheid gegeben, als sie ging. Als hätte sie nicht gewusst, dass es zu ihrem Blick auch einen Blick auf sie gab. Sie fehlt. Die Sicht auf sie im Hof war über die Jahre ein gewohnter Halt.

Ein paar Wochen später wird ihr Balkon abgeräumt. Eine professionelle Firma putzt und saugt, saniert ihr Leben weg.
Ein Mann im Hof schaut hinauf zur Wohnung der Frau. Sie sei an Krebs gestorben, im Krankenhaus. Er sagt, man müsse als Nachbarn besser zusammenhalten. Ein Nicken. Ja. Warum geht man nicht öfter rüber, erzählt von seiner Sicht: Sie sehen traurig aus. Warum eigentlich? Ihr habt ein Kind bekommen? Herzlichen Glückwunsch! Es ist schön, wie euer Lachen über den Hof klingt. Warum habt ihr eure Blumen vertrocknen lassen, als ihr in Urlaub gewesen wart? Wir hätten doch gegossen.

In die Wohnung der älteren Frau ziehen nun neue Nachbarn. Sie befestigen Jalousien, leben ein Leben, das sich kaum in seinen Rändern zeigt. Ein glattes Fensterbild, das noch mehr von dem verbirgt, was parallel in all den Wohnungen passiert.

Drüben im vierten Stock macht der Nachbar jetzt morgens Kniebeugen auf dem Balkon. 15 Kniebeugen. Immer 15. Langsam wie zum Mitzählen. Er hält sich dabei am Geländer fest. Dann geht er wieder hinein. Warum hat er damit begonnen? Und soll man hier, vielleicht hier wirklich klingeln, wenn sich etwas ändert? Es ist ja wichtig zu wissen, was passiert, bevor das Fremd-Vertraute plötzlich aufhört.

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