erschienen in der Kolumne „Zwischen Menschen“, taz. die Tageszeitung, 14.12.2018

Es besteht nur ein dünner Unterschied zwischen Menschen, die eine Bühne haben und denen, die keine bekommen. Zwischen denen, über deren Verrücktheiten die ganze Welt spricht und jenen, die für verrückt erklärt werden.
„Acht Stunden“, ruft der Mann. „Alle arbeiten acht Stunden. „Jeden Tag Arbeiten, Schlafen. Nur drei Stunden habe ich für mich.“ Seine  Bühne ist ein Bus. Vielleicht ist es auch ein Unterschlupf. Ein Ort, an den er sich geflüchtet hat. Eine zufällige Welt, in die ein Anruf platzt, der ihn bekümmert. Er wirkt so unglücklich, dass er sprechen muss. Jetzt und laut. In ein lila Telefon.

„Ich, ich, ich, ich“, stammelt er.
Der Mann sitzt direkt hinter dem Fahrer. Er hat einen drahtigen Bart, schwarze Dreads, eine Baseballkappe. Seine Augen blitzen. Ein lebendiger Zorn umgibt ihn, der ihn gefährlich wirken lässt, aber auch jung, energievoll.
Der Bus fährt aus Niendorf in die Innenstadt. Eine Transportfahrt durch den Alltag, in der das abrupte Sprechen des Mannes wie ein Staccato aus einer anderen Welt klingt. Dutzende Menschen sitzen hinter ihm:

„Acht Stunden“ ruft er in sein Telefon. „Acht Stunden arbeiten. Alle arbeiten acht Stunden.“ „Acht.“ Er spuckt die Acht so verächtlich aus, dass die Zahl kurz wie manifest im Flur des Busses zu stehen scheint, bis sie krachend umfällt: „ACHT“!

Acht Stunden Arbeit, ein Drittel eines Tags. Für die meisten ist dies verinnerlichte Realität. Doch dieser Mann spricht die Acht wie etwas Unglaubliches aus. Er staunt darüber, was alle anderen akzeptiert zu haben scheinen.

Die Acht wirkt wie ein Symbol. Für den Verrat an sich. Für das, was das Leben von einem will, um zu überleben. Für ungelebte Zeit. Die Zeit für die anderen, nicht für sich selbst.
Die Zuschauer schmunzeln. Sie finden es lustig, die Acht und seinen Schmerz darüber. Als wäre es sein individuelles Leid, von dem sie sich erheben können. Als ginge die Acht sie nichts an.

„Ich habe nur drei Stunden, drei Stunden. Wann sollen wir schlafen? Wenn die Kinder schlafen?“ Der Mann spricht so laut, als wollte er die anderen mit einbeziehen, um seine Situation zu verarbeiten. Er nutzt sein Handy wie ein indirektes Sprachrohr an sie. Vielleicht hören die anderen ihm besser zu, wenn sie ihn belauschen. „Ich wollte alles, aber geht nicht mehr“, sagt er. „Ich, ich, ich.“
Hinter ihm sitzen zwei Kinder. Sie stoßen sich an und machen ihn nach: „Ich, ich, ich“.
Ihr Vater beugt sich zu ihnen hinunter: „Pssst. Nicht“.

Der Mann wird kurz still. Dann ruft er laut in das Telefon: „Ich gehe weg. Weit weg. Ich bin schon weit weg. Ciao. Tschüss.“ Er legt auf. Kurz darauf klingelt das Handy wieder, das Gespräch geht von vorn los: „Ich kann nicht mehr. Ich bin. Weiß es nicht. Irgendwo, in der Welt. In Weltecke. Weiß nicht, wo ich bin. Ich weiß es ja gar nicht. Wo bin ich? Irgendwo in Deutschland.“

Die Fahrgäste schauen jetzt alle auf den Mann. Für einen unwirklichen Moment wirkt er wie ein Philosoph, eine Sagengestalt, die gekommen ist, um eine Botschaft zu verkünden: Ja. Wo befinden wir uns eigentlich? Und wozu machen wir das, was wir tun?
Dann dreht sich der Mann plötzlich um. Er schaut die Menschen an, wie ein Schauspieler, der im Film auf einmal direkt in die Kamera spricht. Die Fahrgäste schauen erschrocken. Der Mann lächelt höflich: „Ich bin etwas laut. Entschuldige, mir geht es nicht gut. Kann passieren“, sagt der Mann. „Ist Natur.“ Die Fahrgäste nicken und lächeln, bereit, ihn ernster zu nehmen, da er sich selbst reflektiert.

Am Bahnhof Schlump steigt der Mann aus. „Sorry schimpfen“, sagt er zum Fahrer. „Schönen Tag.“
„War schon sehr witzig“, sagt eine Frau zur anderen, als er verschwunden ist, als hätte sie sich gerade eine Vorstellung angeschaut.

Der Bus fährt weiter. Der Vater, der eben seine Kinder zurechtgewiesen hat, schaut mit ihnen aus dem Fenster. Dann, als würde ihm die Stimme des Mannes wie ein Ohrwurm in den Sinn kommen, macht der Vater ihn plötzlich nach: „Ist Natur“, sagt er. „Kann passieren.“
Er blickt um sich, selbst ganz verwundert darüber, was das Leben auch ist: Dass sich einer selbst eine Bühne baut und damit in den Köpfen der Menschen bleibt.

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