Die Lücke – taz

erschienen unter dem Titel „Ein kleiner Laden auf St. Pauli hinterlässt eine große Lücke“ in der Kolumne „Zwischen Menschen“, taz. die Tageszeitung, 6.7.2018

Auf St. Pauli werden große Geschäfte gemacht und kleine Geschäfte gehen verloren. Aber was ist mit Johnny, denke ich. Sein Laden ist schon seit einem Jahr verrammelt. „Modellbau Rettkowsky“: fast 100 Jahre eine Instanz auf St. Pauli. Zwei Weltkriege überlebt, aber nicht das Internet. Ein niedriger Flachbau zwischen hochgeschossigen Häusern. Ein Grundstück, das auf St. Pauli Gold wert ist. Eine Lücke, auf die Investoren in Gedanken Stockwerke setzen. Eine kleine Welt, die für viele das Größte war: Eisenbahnen, Autos, Schiffe, Panzer, alles im Miniatur-Maßstab. Vor einem Jahr im Sommer hat Johnny dann Eisenläden vor die Fenster geschoben. Aus. Vorbei. Investoren haben sich gedrängelt. Er wollte verkaufen. Aber warum hat sich seitdem noch nichts getan?

Ich schaue durch Gitterstäbe in das Dunkel hinter der Ladentür. Beim Räumungsverkauf vor einem Jahr habe ich zwei Modellautos gekauft und bin noch geblieben, habe mitbekommen, wie das ist, wenn etwas aufhört. Meine Gedanken gehen zurück, ich höre die Ladenglocke läuten, sehe Johnny, wie er hinter der Theke steht. Der harte Kern der Stammkundschaft kommt, „99,9 Prozent Männer“. Männer, für die „Retty“, seitdem sie kleine Jungs sind, ein Zuhause ist. Die jetzt beim Abschied das Ende noch nicht begreifen. Sie wollen nicht im Internet bestellen, sie wollen die Schiffe anfassen, sie wollen zwischen den Regalen hergehen, sie wollen mit Johnny reden.

Unter ihnen sind auch Männer mit ungewaschenen Haaren und mit langen Nägeln, die in anderen Welten leben, die mit einer Nagelschere winzige Hartplastik-Teile abtrennen, mit einer Pinzette auf ein Schiff kleben und es mit einem Pinsel bemalen. Maßstab 1:471, der kleinste, den Johnny hat. Johnny kannte alle Vorlieben. Jetzt stehen die Männer vor seiner Theke: „Ich wollte mich hier verabschieden“, sagen sie. „Tschüss für immer“. Sie wirken traurig wie Kinder, denen etwas weggenommen wird.
Ein dünner Mann mit einer abgegriffenen Plastiktüte zeigt über den Türbogen, er kommt seit 40 Jahren: „Gibst du die auch weg?“ Da hängt das alte Segelschiff, die „Rickmer Rickmers“. Es ist ihm wichtig, dass Johnny sie behält.

Johnny hat schon viel mehr losgelassen. Er wirkt gefasst. Er baut dem Mann eine Schnur-Halterung um seinen letzten Karton, den er zum Restepreis rausträgt. „Die Fantasie ist das Wichtigste“, sagt Johnny dann. „Du hast vielleicht deinen Job verloren, aber im Modellbau bestimmst du die Regeln.“ Einigen Kunden reicht es auch, die Packungen einfach nur zu sammeln. Die Modelle sollen gar nicht fertig werden. „Dann wäre ja der Traum vorbei.“ Er hat vielen Witwen die Fantasien ihrer Männer abgekauft. Noch versiegelte Kartons, gehortet auf Dachböden, in Schränken.
Johnny hat die Männer akzeptiert, wie sie waren. Wegen ihnen hat sich der Laden überhaupt so lange gehalten, aber es ist eine Generation, die nicht ewig lebt.

Eigentlich wollte er noch zwei Jahre bleiben, dann gäbe es Rettkowsky 100 Jahre, 15 davon war er dabei. Zuerst als Aushilfe und dann, als er das Geschäft vom alten Rettkowsky übernahm. Im Internet Modelle zu verkaufen – daran hat er nicht gedacht. Der Ort hier hatte eine Seele, das machte doch seinen Reiz aus, auch wenn so vielleicht neue Anreize fehlten. Dann wurde selbst das Weihnachtsgeschäft schwach. „Da habe ich gemerkt, es funktioniert nicht mehr.“ Wenn Johnny aufhört, fängt auch etwas Neues an. Mit dem Geld für das Grundstück kann er eigene Träume verwirklichen.

Die Männer schauen sich noch einmal um, so wie man aus einem Haus geht, in dem man lange gewohnt hat. Fast körperlich ist eine Energie von Ende zu spüren. Was wird jetzt aus den Männern, denke ich. Wo gehen sie denn hin? Und Johnny, was ist mit Johnny? Vielleicht braucht er ja diese Männer mehr als er denkt.
Das ist nun ein Jahr her. Der Ort wirkt, als würde hier etwas warten. Beunruhigend ist das und auch wie ein Trost. Wo fast hundert Jahre Kleines entstand, ist ein Jahr Pause nicht viel, bis darauf groß gebaut wird.

Foto: © Christa Pfafferott

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