erschienen in der Kolumne „Zwischen Menschen“, taz. die Tageszeitung, 3.8.2018

Alles an Buchenwald ist unfassbar. Doch nichts ist so unbegreiflich wie der Zoo. „Hier waren die Bären“, sagt die Besucherführerin. Wir stehen vor einem Gehege mit Felsen. Davor ist ein Foto von Bären angebracht, die miteinander balgen. „Und dahinten, das war der andere Zoo, der menschliche Zoo“, sagt die Führerin. An das Bärengehege grenzt der Lagerzaun. Dort erstreckt sich das Gelände mit den Baracken. 56.000 Menschen starben im Konzentrationslager Buchenwald. Unermessliches Leid ist auf diesem Feld geschehen. Und direkt nebenan hat der Oberkommandant Koch für die SS-Leute und ihre Familien zum Entspannen einen Zoo mit wilden Tieren angelegt. Die Häftlinge mussten sie mit Fleisch füttern. „Jedem das Seine“ steht in Buchenwald am Tor – das römische Ideal für die Freiheit des Einzelnen. Die Lagerleitung hat es umgedeutet: Jeder bekommt das, was er verdient – die Häftlinge eben das Lager.

Es ist vor allem dieser Sarkasmus, der hier alles unerträglich macht. Das Schlimme ist nicht das Grauen, sondern das, was man darin kennt und deshalb mit sich verbindet. Wie in einem Horrorfilm, in dem einem der Clown Angst macht oder das Kind, das stumm am Ende eines Flurs steht. Diese schreckliche Normalität bringt alles ins Rutschen. Als würde sich der Raum zu einem ungleichmäßigen Quader verziehen, in dem es keine Gesetzmäßigkeit mehr gibt.

Die Besucherführerin spricht laut und fast überdeutlich. Vielleicht ist dieses klare Sprechen ihre Schutzhülle, denke ich, das, was sie aufrichtet hier. Ich bin dankbar, dass sie da ist, bin dankbar für die Menschen, die mich umgeben. Die Führung hüllt diesen Ort in eine zeitliche Dramaturgie, gibt ihm einen vermeintlichen Anfang und ein Ende.

Buchenwald ist eines der größten deutschen Konzentrationslager und das zweite, das ich besuche. Es liegt bei Weimar, der Stadt der Hochkultur, in der einst Goethe und Schiller lebten. Im Zweiten Weltkrieg wurden hier Menschen vom Bahnhof zehn Kilometer hinauf auf den Ettersberg zur Zwangsarbeit getrieben. Menschen, die als anders galten, Juden, Sinti und Roma, Widerständige, Homosexuelle.

Zwei Jahre zuvor war ich im Winter in Hamburg im KZ Neuengamme gewesen. Ich bin allein durch die Baracken gelaufen, um mich eine Weite, in der ich mich nirgends festhalten konnte und die sich langsam in mir ausbreitete. Auch jetzt in Buchenwald spüre ich etwas Schutzloses. Als wäre die eigene Haut weg. Als würde etwas durch die Knochen bis tief in einen hineinwirken. Vielleicht macht das die Bedeutungslosigkeit, die hier jedem Ich gegeben wurde. Dass es keine Ichs geben durfte. Nur eine Masse Mensch.

Ich habe gehofft, dass mir der Sommer hilft, Buchenwald zu ertragen, aber letztlich ist es die Gemeinschaft. Die Menschen in der Gruppe um mich verbinden mich mit der Welt außerhalb des Zauns, in der feste Maßstäbe gelten. Doch dann denke ich, dass sich seit meinem letzten Besuch im Konzentrationslager die Maßstäbe draußen verschoben haben. Der Zaun zwischen dem Lager und dem Draußen ist nur eine dünne Linie. Der Sarkasmus, mit dem das Leid von Menschen betrachtet wird, nimmt zu, Rassismus und Hetze breiten sich aus. Mitglieder der derzeit größten deutschen Oppositionspartei AfD bezeichnen den Nationalsozialismus als einen Vogelschiss in der deutschen Geschichte, das Holocaust-Mahnmal in Berlin als ein „Denkmal der Schande“.

„Der Ort ist der Ort“, sagt die Führerin. „Man kann ihn nur wirklich begreifen, wenn man hier ist.“ Wir gehen durch kalte Keller, in denen die Leichenberge lagerten, sehen Haken, an denen Menschen aufgehängt wurden. „Wenn eine Generation an Zeitzeugen wegstirbt“, sagt sie, „dann kippt es, dann schlägt das politische Klima wieder um. Und die Zeugen sterben jetzt.“ Wir schauen betroffen.

Es ist dieser Ort, der mir die Vergangenheit ins Jetzt bringt und mir vor dem Jetzt Angst macht. Hier merke ich, wie wichtig Personen wie die Besucherführerin sind, die daran erinnern, was Menschen Menschen antun können. Dass Buchenwald unfassbar ist und trotzdem wieder geschehen kann, wenn wir das Grauen in unserer Normalität einfach hinnehmen. Die Felsen, auf denen die Bären neben dem Lager balgten, stehen noch immer. Die Zeugen sterben jetzt. Jetzt sind wir die Zeugen. Die Zeugen unserer Zeit.

Foto: © Christa Pfafferott

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