erschienen in der Kolumne „Zwischen Menschen“, in taz. die Tageszeitung, 26.6.2020

Glück. Diese Sommertage sind so eine Zeit. Da sieht man den Menschen ihr Glück an. Sie lächeln mehr. Man ahnt die geheimnisvollen Wendepunkte, die man meist nicht bei den anderen mitbekommt. Die Ritzen, die unbewussten, schmalen Augenblicke im Leben, in denen sich etwas entscheidet. Der Moment, in dem zwei Menschen beschließen, dass sie zusammenleben oder ein Kind bekommen wollen, oder in dem sich ein dankbares Gefühl für die Wirklichkeit, in der man lebt, verdichtet.

Ich fahre mit dem Rad den Hügel Richtung Michaeliskirche hinab. Es ist ein schöner Morgen. Die Luft ist warm. Der Himmel ist tiefblau. Die Sonne hebt alle Farben hervor. Neben mir fährt ein Mädchen auf einem Roller, direkt hinter ihr auf dem Roller umarmt sie ein Junge. Das Mädchen lächelt stolz, ihre Haare flattern im Wind. Eine ruhige, glückliche Gewissheit umgibt die beiden. Haben sie vielleicht an diesem Morgen entschieden, dass sie ein Paar sind?

Plötzlich, bei diesen Gedanken, in dieser weichen Luft, reißt ein Klang durch den Himmel. Ein Ton. Noch einer. Hell und klar. Eine Trompete spielt. Mein Herz macht einen Sprung. Ich schaue auf die große Turmuhr der St.-Michaelis-Kirche. Ja. Es ist 10 Uhr. Jahrelang habe ich ihn vergessen. Das muss Herr Huhn sein. Der Micheltürmer.

Zweimal am Tag, jeden Morgen um 10 Uhr und jeden Abend um 21 Uhr steigt der Micheltürmer mit seiner Trompete auf den Turm. Oben öffnet er nacheinander die Fenster und spielt, zuerst nach Osten, wo die Sonne aufgeht, die nächsten Strophen dann nacheinander in alle vier Himmelsrichtungen. Jeden Tag einen anderen Choral.
Vor 16 Jahren stand ich einmal oben mit Horst Huhn, habe den Micheltürmer interviewt und mit einem Mikrofon sein Trompetenspiel aufgenommen. Ein Gruß in die Welt, wie eine Pause: Halt an, hör hin. Seit mehr als 300 Jahren gibt es diese Tradition, früher war das Trompetenspiel ein Zeichen für die Öffnung und Schließung der Stadttore. Bis heute ist das Zeichen geblieben. Für was steht es jetzt?

Ich halte an, versuche die Trompete besser zu hören. Ich erinnere mich an damals, an die Ruhe dort oben im Turm. Wie der Mann mit der Trompete spielte, sie absetzte, von Fenster zu Fenster schritt. Um ihn der Himmel und die Stadt. Etwas Großes, nicht Fassbares drückte sich darin aus.
Hier unten schwebt die Melodie über den Straßen, wie eine Filmmusik legt sie sich um den Alltag, über eine ältere Dame, die mit ihrem Hund ausgeht, einen Kioskbesitzer, der vor seinem Laden die Arme über dem Bauch verschränkt, zwei Obdachlose auf einer Bank, über Autos, die sich die Straßen entlangschreiben.

Ich denke daran, dass es nicht immer Tage wie diese gibt. Blaue Tage, in denen einem aus den Gesichtern der anderen das Glück entgegenspringt. Viele Menschen klagen gerade darüber, dass die Zeit so schnell vergeht, dass die Zukunft unsicher ist und sich das Leben ständig ändert. Das Trompetenspiel klingt in all dem wie eine beruhigende Konstante. Die Sonne geht auf. Die Sonne geht unter. Der Tag beginnt. Der Tag endet. Was auch immer passiert. Aus einem kleinen Fenster im Turm reckt sich die Trompete. Mehr als 300 Jahre schon. Egal was war an Kriegen und Krisen, an Moden, Umbrüchen, an Regierenden. Der Klang der Trompete ist durch alle Zeit geblieben. Menschen haben sich darunter verliebt, sind Roller gefahren, haben den Sommer und Momente von Glück und Unglück erlebt.

Ja, neben dem Glück des Moments gibt es auch dieses Glück. Das Glück der langen, konstanten Linien im Leben, dem, was bleibt. Vielleicht gibt ja mehr davon, als wir wahrnehmen.
Wieder eine kurze Pause. Dann beginnt die vierte Strophe. Ich biege in eine Seitenstraße ein, will näher ran an den Klang, der schwingt und schwebt, der eigentlich nicht zu fassen ist. Ich will das Trompetenspiel noch besser hören, es noch einmal mit meinem Handy aufnehmen. Doch als ich dann direkt vor dem Michel stehe, höre ich die Trompete nicht mehr. Das Spiel ist vorbei. Doch dieses Spiel geht weiter.

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