erschienen unter dem Titel „Die Ruhe einer übersprungenen Generation“ in der Kolumne „Zwischen Menschen“, taz. die Tageszeitung, 8.3.2019

Eine alte Frau und ihre Enkelin sitzen in der vollen Bahn. Um sie stehen viele Menschen. Die zwei wirken, als würde es nur sie beide geben. Tief versunken sind sie in ihr Miteinander. Durch das Mädchen wirkt die Frau noch älter. In ihr Gesicht sind Falten geprägt. Ihre Hände, schwer und voller Altersflecken, bewegen sich langsam. Das Mädchen hat ein pralles, glattes Gesicht, fast weiß-blondes Haar, helle Augen, in denen das kurze Leben noch keinen Ausdruck hinterlassen hat. Sie ist etwa drei Jahre alt. Sie hat nun die geheimnisvolle Grenze in die Zeit überschritten, an die sie sich später bewusst erinnern kann. Vielleicht wird diese Bahnfahrt in ihrem Lebenssack von Erinnerung bleiben. Dieses Wochenende. Der Samstag mit Oma.

Das Mädchen lehnt ihren Kopf an die Scheibe, sie schaut hinaus, lässt die Farben und Formen der Stadt an sich vorbeirauschen. Die Augen huschen hin und her, sehen die Schienen, die neben dem Zug entlanglaufen, die Oberleitungen, die Tunnel und Geschäfte. Manchmal zeigt sie stumm auf etwas, weist der Oma neben sich, was sie sieht, stolz darauf, was sie gerade in dieser Welt entdeckt hat.

Ab und zu nimmt sie die Hand der Oma. Nebenbei und selbstverständlich, als müsste das manchmal so sein. Die große, schwere Hand halten. Der Kontakt zu Oma. Sie hält sie leicht in ihrer kleinen Hand, während sie ins Draußen blickt. Die Frau schaut das Mädchen an: „Willst du was zu trinken? Eine Reiswaffel?“

Sie wirkt höflich, als würde sie die Betreuung proben, als bediente sie jemanden, den sie noch nicht gut kennt. Ja, das Mädchen nickt. Sie will etwas trinken. Die Frau öffnet mit ihren alten Händen den Reißverschluss des kleinen bunten Kinderrucksacks. Sie holt eine Wasserflasche heraus. Das Mädchen trinkt schnell, hastig zieht sie am Mundstück. Schluckt, schluckt und gluckst. Dann plötzlich setzt sie ab. Sie atmet laut aus, atemlos vom Trinken. Stumm reicht sie der Oma die Flasche zurück, wie eine Sportlerin sie ihrer Trainerin gibt, um sich schnell wieder auf das Spiel zu konzentrieren. Sie schaut wieder aus dem Fenster.

Die Frau blickt nun unentwegt auf das Kind, dessen Augen umherhuschen. Das Mädchen sieht die große Welt draußen. Die Frau sieht in dem Kind eine neue weite Welt.

„Du bist brav und manchmal ein Lausemädchen“, sagt sie plötzlich, als müsste sie die Liebe aus sich herauslassen, etwas davon benennen. „Aber das ist gut, dass du ein Lausemädchen bist“, sagt sie dann mit Nachdruck.

Die Oma kann ihre Augen nicht von dem Mädchen lassen. Sie schaut sie an wie ein Wunder. Es ist eine totale Versunkenheit in ihrem Blick, wie eine Verliebtheit. Im Gesicht der Oma liegt eine zärtliche Demut, dass dieses helle Mädchen da ist, dass sie auf erstaunliche Weise zu ihr gehört. Etwas Junges, Schönes, Leichtes, dass noch einmal spät in dieses Leben voller Jahre tritt, in dem der Sack der Erinnerung schon voll ist.

„Du bist ein Goldschatz“, sagt sie dann. „Ein richtiger Goldschatz.“ Die Kleine reagiert nicht. Die Liebe der Oma ist im Hintergrund wie die Trinkflasche, der Rucksack, das, was selbstverständlich da ist.

„Ich werde dem Opa sagen, dass du ein ganz braves, liebes Mädchen warst.“ Das Mädchen schaut versunken. „Du wirst müde“, sagt die Oma dann. Sie kann das jetzt lesen im Gesicht des Mädchens: „Ich sehe es.“

Eltern in der U-Bahn blicken ihr Kind selten so an, wenn sie involviert sind in den Alltag, in den Weg und den Stress. Kinder schreien selten mit ihren Großeltern. Sie brüllen eher bei den Eltern, den Vertrautesten, bei denen sie sich trauen, allen Kummer loszulassen.

Zwischen dem Mädchen und der Oma liegt die Ruhe einer übersprungenen Generation. Liebe trotz Abstand. Wie schön das ist, dass die Ränder des Lebens, der Beginn und das Ende so zusammenkommen und sich stärken. Wie das langsame Tempo des Kindes mit den ruhigen Bewegungen der Älteren zusammenpasst.

Als die Bahn die nächste Station erreicht, stehen die beiden auf. Das Mädchen fasst leicht nach der Hand der Oma. So gehen sie zusammen hinaus in die Welt hinter dem Fenster.

Foto: Christa Pfafferott

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