erschienen in der Kolumne „Zwischen Menschen“, in taz. die Tageszeitung, 11.3.2022

Ein neuer Frühling ist da. Und ein neuer Krieg. Der Krieg liegt unter der Sonne. Der Krieg liegt unter den Krokussen. Der Krieg in der Ukraine ist jetzt immer in den Gedanken in diesem neu aufbrechenden Frühling. Auch am Hauptbahnhof in Hamburg kommt der Krieg an.

Der Arbeiter-Samariter-Bund hat dort in einem Nebenraum der Reiseauskunft eine Anlaufstelle für die Geflüchteten aus der Ukraine eingerichtet. Von den Hunderten, die in diesen Tagen ankommen, wollen viele weiter zu Bekannten in Nachbarländern, andere bleiben. Helfende in gelben Westen sprechen die Menschen an, holen sie vom Gleis ab.
An Gleis 8 und 12 kommen die meisten Züge mit Geflüchteten an, viele reisen über Warschau, Berlin, sie sind seit vier, sechs Tage unterwegs. Es sind meist Frauen mit kleinen Kindern. Sie haben wenig Gepäck dabei. Die Menschen sehen müde aus, aber sie wirken gefasst und ruhig. „Ich frage mich, ob die Tränen aus sind, nach den vielen Tagen, in denen sie unterwegs sind“, sagt eine Helferin.

Im Helfer-Raum ist auch ein Zettel angeklebt: „Bitte melden, wenn Ihr an den Gleisen Leute bemerkt, die sich als Helfende ausgeben und sich Frauen und Kindern nähern.“ Es gibt Herren, die an den Bahnhof kommen und hübsche Frauen ansprechen und mitnehmen, sagt die Schichtleiterin. Natürlich können die Geflüchteten zu Bekannten gehen. Aber Fremde sollen sich erst registrieren, bevor sie eine Unterkunft anbieten.

Die Geflüchteten kommen in die zentrale Aufnahmestelle nach Rahlstedt, sie haben 90 Tage, um sich zu registrieren. Doch viele denken darüber nach, an welchem Ort sie sich registrieren. „Sie fragen jetzt schon, kann ich arbeiten, wenn ich als Asylsuchende gemeldet bin“, sagt eine Helferin. „Das finde ich beeindruckend, in dieser Situation so vorauszuplanen, vor allem an Arbeit zu denken.“

An der Station kommen drei Frauen aus drei Generationen an: Eine Großmutter mit Brille, eine Mutter mit blondem Haar und ihre kleine Tochter. Die Mutter hält einen zarten, hellbraunen Chihuahua im Arm. Er trägt ein Jäckchen mit Fellkapuze. Der Hund ist sehr still, sagt die Mutter auf Englisch. „She has no voice“, wiederholt sie. Sie ist still, wenn es für uns wichtig ist.

Eine Helferin wendet sich an die Mutter: „In das Quartier in Rahlstedt können keine Hunde mitgenommen werden. Es gibt aber eine Gruppe, die die Tiere aufnimmt“, erklärt sie ihr. „Sie können den Hund dort besuchen.“ Die Mutter macht einen Witz: „Es gibt eine Unterkunft für den Hund? Aber nicht für uns?“ Dann lacht sie und nickt, sie hat verstanden, was es bedeutet. „Meine Mutter möchte nicht ohne den Hund sein“, sagt sie dann fest. „Das geht nicht.“ Sie zeigt ein Foto von einem Husky, den sie schon nicht mitnehmen konnten.

Die Mutter wartet jetzt auf die Schwester, die bereits aus Odessa nach Hamburg geflohen ist. Vielleicht hat sie einen Schlafplatz, wo sie alle zusammen mit dem Hund unterkommen können. Sonst könnte sie den Hund vielleicht im Pulli verstecken, scherzt die Mutter. Er ist doch so klein, so leise. Er würde niemanden stören.
Die Großmutter zeigt auf ihrem Handy Fotos aus ihrem Leben in Kiew: Der Hund in verschiedenen Kleidern, alle selbst von der Großmutter genäht. Sie zeigt auf den Hund: „Jetzt hat sie nur noch dieses eine Mäntelchen.“

Die Mutter zeigt Bilder von den Warteschlangen vor der Grenze nach Polen. „Wir haben stundenlang bis in die Nacht gewartet, ohne uns zu bewegen. Es war so kalt.“ Dann zeigt sie ein Foto von ihrem Bruder in der Ukraine. Ein Mann, aufgerichtet, in Militärkleidung: „He is fighting now.“

Wo könnten wir Kleider bekommen, fragt die Mutter. Sie blickt auf die Tochter, die hohe Winterstiefel trägt. In Polen war es kalt. In Deutschland ist das Wetter schön. Während ihrer Flucht ist es Frühling geworden.
Dann endlich kommt ihre Schwester. Die Frauen umarmen sich. Für diese Nacht haben sie eine Unterkunft, zusammen mit dem Hund. Sie verlassen die Station. Eine Familie von vielen, die in diesem Frühling ein neues Zuhause braucht.

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