erschienen in der Kolumne „Zwischen Menschen“, in taz. die Tageszeitung, 23.8.2022

Ein Freund und ich laufen an der Alster entlang. Die Sonne scheint. Das Wasser glitzert. Einige Segelboote sind unterwegs. Ich spüre Leichtigkeit. Es ist ein stiller Morgen, der Weg ist frei.

„Da war ein Mann mit einem Schild. Hast du ihn gesehen? ‚Please more hugs‘ oder so stand darauf“, sagt der Freund. Ich drehe mich um. Da geht ein eleganter Mann am Alsterweg. In der Hand das Schild. Er sieht ambitioniert aus, aber nicht suchend. Ein Mensch, der etwas unauffällig sendet. Wir überlegen kurz, ob wir ihn umarmen sollen.
„Ich schwitze zu stark“, sagt der Freund. „Das wäre unangenehm für ihn.“
Da hat uns der Mann schon entdeckt. „Was meinen Sie mit dem Schild?“, frage ich.
„Wollen Sie eine Umarmung?“, fragt er. Ich drehe mich nach dem Freund um. Er steht etwas abseits. Ich nicke und gehe auf den Mann zu.

Er lächelt freundlich. Seine Augen leuchten. Gedanken schwirren durch meinen Kopf. Ich hoffe, dass seine Absichten nur gute sind. Dass er mich nicht zu lange oder unangenehm umarmt.
Wann habe ich das letzte Mal überhaupt einen völlig fremden Menschen richtig umarmt?
Wir gehen aufeinander zu. Es sind nur ein paar Sekunden. Aber das Gefühl ist ähnlich, wie wenn man auf dem Dom kurz vor dem Start eines Fahrtgeschäfts steht: Okay, gleich geht es also los. Wie wird es sein? Will ich das überhaupt? Warum habe ich mir das bloß freiwillig ausgesucht? Dann umarmen wir uns.

Umarmungen können ja alles sein. Zangenhafte Berührungen auf Abstand, die hölzern sind und distanzierter wirken als ein Händedruck. Oder innige Umarmungen, die einem Kraft und Liebe schenken. Diese Umarmung ist neutral. Der Mann drückt mich noch einmal, dann ist es vorbei.
„Danke für die Umarmung“, sagt er. Er hat einen niederländischen Akzent.
„Warum machen Sie das“, frage ich.
„Nähe ist wichtig“, sagt er. „Darauf möchte ich aufmerksam machen. Wir haben die Nähe verlernt in den letzten Jahren mit Corona. Aber Nähe ist so wichtig für uns Menschen wie Essen und Schlaf.“

Ich überlege kurz, wie sich dieser Mann in der Pandemie wohl positioniert hat. War er ein Coronaleugner? Dann schiebe ich den Gedanken weg. Wir laufen weiter.
Später denke ich noch einmal über die Begegnung nach. An was für eine Nähe will der Mann erinnern? Und wie sind wir uns eigentlich nah gekommen nach den Maßnahmen? Es ging ja dann doch wieder so schnell.

Wir haben so lange Nähe gemieden. Viel über 1,5 Meter Sicherheitsabstand und Distanz gesprochen. Jede Person hatte ihre Meinung und ihren Umgang dazu, wie wir uns distanzieren. Doch wie wir Nähe jetzt wieder lernen, ist weniger Diskurs. Es ist, als wäre ein Gummiband weit zurückgedehnt worden und würde jetzt wieder zurückspringen. Viele sind einfach wieder dazu übergangen, sich zu umarmen, die Hand zu geben, nah beieinander bei Veranstaltungen zu stehen. Fast, als hätte es das Davor nicht gegeben.

Jetzt beginnt die Zeit, in der ich schon staunend auf die Zeit zurückblicke. Ich erinnere mich, wie zwei Menschen auf dem Bürgersteig voreinander ausgewichen sind, wie mich eine Frau an der Supermarktkasse gebeten hat, zurückzutreten. Und ich mit völligem Selbstverständnis reagiert habe und da doch auch immer dieser kleine Stich war, für andere, weil ein Mensch, per se potenziell gefährlich zu sein.

Jetzt sind wir wieder in der Nähe, aus der wir gekommen sind. Oder sind wir doch woanders? Ist es eine andere Nähe? Eine gute Nähe? Oder ging das alles zu leicht, zu schnell? Müssten wir uns nicht auch in der Nähe annähern? Damit sie im übertragenen Sinne nicht oberflächlich bleibt, sondern tief ins Gewebe dringt? Please more hugs.
Brauchen wir denn Umarmungen, um uns nahe zu sein? Ja, Berührung ist wichtig. Doch Berührung ist vieles. Auch in körperlicher Nähe kann Distanz liegen.
Einen Raum der Stille zusammenzuhalten, kann intensiver als eine schnelle Umarmung sein. Jemandem wirklich zuzuhören. Gemeinsam zu lachen. Das alles ist das auch. Nähe.

Go top