erschienen in der Kolumne „Zwischen Menschen, taz. Die Tageszeitung, 13.12.2019

Der Dezember ist eine stille und eine unruhige Zeit. Es sind die letzten Tage vor der Wintersonnenwende. Der Tag hält nur kurz zwischen viel Nacht. Die Tiefe der Dunkelheit konfrontiert viele mit sich und der Frage, wo sie am Fest der Liebe stehen. Wie feiern, wenn die Liebe fehlt?

Diese Zeit erinnert mich auch an einen Ort. Vor Jahren habe ich einen Film in der forensischen Psychiatrie gedreht. Dort sind psychisch erkrankte Straftäter*innen untergebracht: hoch gesichert und auf unbestimmte Zeit. Die Pfleger*innen erzählten, dass gerade vor Weihnachten die Stimmung angespannt und aggressiv sei. Die Patient*innen sind konfrontiert damit, wonach sie sich sehnen und was sie vermissen. An diesem Ort verdichtet sich, was auch die Menschen außerhalb der Zäune bewegt. Für die im Dunkel kann es schwierig sein, das Licht zu ertragen, das für sie nicht scheint. Die Frage ist nur: Was ist das Dunkel? Was ist das Licht?

Vor den Dreharbeiten habe ich in der forensischen Psychiatrie eine Hospitanz absolviert. Dabei fuhr ich bei einer Gerichtsfahrt mit.Früh morgens stiegen wir im Hof in einen Transporter. Vorne auf der Fahrerbank quetschten sich ein Sicherheitsmitarbeiter, eine Pflegerin und ich. Hinter uns im vergitterten Laderaum saß eine Frau mit Handschellen. Sie und uns trennte eine Wand mit Sichtloch. „Pass auf. Alles, was du vorne sagst, kann man hinten hören“, sagte der Sicherheitsmitarbeiter. „Für den Fall, dass sie freikommt und sich an dich erinnert.“

Das Tor ging auf. Wir fuhren nach draußen. Es war finster und kalt.
Ich wusste, dass die Frau hinten nicht in der Klinik bleiben wollte. Bei der Gerichtsverhandlung würde es darum gehen, ob sie nach Paragraf 63 Strafgesetzbuch für schuldunfähig erklärt werden würde. Das würde für sie die Unterbringung auf unbestimmte Zeit bedeuten. So lange, bis sie nicht mehr als gemeingefährlich gelten würde. Mit diesem Urteil wissen die Patient*innen nicht, wann sie hinauskommen. Die unbestimmte Zeit ist für sie der Schritt in ein Dunkel ohne erkennbares Licht. Als müsste man jeden Tag für eine Prüfung lernen, ohne zu wissen, wann das aufhört. Es ist vor allem diese Ungewissheit, die viele Patient*innen in der Klinik verzweifeln lässt.

Die Frau hinten war aufgeregt. An diesem Tag ging es um viel für sie. Wir vorne spürten das auch. Wir schwiegen. Dafür lief das Radio: In Chile wurden an diesem Tag 33 Arbeiter aus einer eingestürzten Mine befreit. 69 Tage lang waren sie im Dunkeln eingesperrt gewesen. Der Radiosender übertrug die Freilassung. Ein lautes Happy End. Die Männer, einer nach dem anderen, wurden unter Beifall ans Licht gezogen. Jubel. Weinen. Freiheit. Jubel. Ein asynchroner Soundtrack zu unserer Fahrt ins Gericht, zur Dunkelheit, dem Schweigen und der Frau mit den Handschellen im Rücken, so still, dass man sie fast vergaß. Was fühlte sie da hinten? Ich überlegte, den Radioregler runterzudrehen, und fühlte mich doch nicht befugt dazu.

Auf der Autobahn ging die Sonne auf. Als wir vor Gericht hielten, war es hell. Im Gerichtssaal verlas die Frau ein Schreiben, wie gerne sie alles ungeschehen machen würde.
Später erfuhr ich, dass ihre Hoffnung sich nicht erfüllt hatte. Sie wurde als schuldunfähig verurteilt und auf unbestimmte Zeit in der Klinik untergebracht.

Die Frau von der Gerichtsfahrt habe ich später bei den Filmarbeiten wiedergesehen. Sie hatte sich eingelebt. Es schien ihr besser zu gehen.
Auch wenn die Stimmung vor Weihnachten in der Klinik schlecht war, wurde sie dann an Heiligabend friedlich. Ruhe senkte sich. Die Pfleger*innen schmückten die Räume, steckten Lichter. Sie versuchten den Patient*innen ein Zuhause zu geben.

Daran muss ich seitdem oft denken. Dass es viele Menschen gibt, in Institutionen, auf der Straße, zu Hause, die zu denen steigen, die im Dunkel sind. Das Licht ist kein fester Ort. Es wandert mit der Dunkelheit.

Foto (Symbolbild): Christa Pfafferott

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