erschienen in der Kolumne „Zwischen Menschen“, taz. die Tageszeitung, 11.10.2019

Ich sitze in einem Abteil. Ich sitze in einem Experiment. Ich stelle mir vor, dass nur dieses Abteil durch die Welt gischt. Als wäre da nur der Zug und die Welt. Wie in „Jim Knopf und Lukas der Lokomotivführer“, wo es nur die Loks und die Insel Lummerland gibt.
Ich sitze schon seit Stunden in diesem Zug, der weit aus dem Süden nach Hamburg fährt. Es ist ein Sonntag nach einem Brückentag. Der Zug ist voll. Draußen in den Gängen stehen die Menschen. Ich bin froh, einen Platz zu haben, in einem Sechser-Abteil, als „Sonderabteil“ in der Leuchtanzeige beschriftet. Als wäre dieses Abteil wirklich eine Fantasie.

Im Zug sind die Anzeigen für die Reservierungen ausgefallen. Wir sechs im Abteil hoffen, dass niemand zusteigt, der hier reserviert hat. Dann kommt die nächste Station: Eine Frau mit riesigem Koffer bleibt vor unserem Abteil stehen: „Wagen 6, Platz 86. Sehr schön, das ist meiner.“ Wir alle haben den gleichen Gedanken: Hoffentlich ist es nicht mein Platz.
Die Frau neben mir hat die Niete gezogen. 86. Wie in einem Spiel verlässt sie die Welt.

Die Passagierin kommt mit dem Koffer rein und schaut auffordernd einen jungen Mann an. Er wuchtet ihren Koffer hoch. Sie setzt sich und presst die Lippen aufeinander. Ich spüre, wie unsympathisch mir ihre rechthaberische Art ist, dass ihr ein Stück dieser Welt gehört, nur weil sie es reserviert hat.

Eine Durchsage ertönt nun: „Wir fahren noch nicht los“, sagt der Zugführer. „Der Zug ist zu voll. Er stellt ein Sicherheitsrisiko dar. Ich bitte alle Reisenden, die stehen, auszusteigen.“
Ein Raunen geht durch die Gänge. Die Menschen schauen erschrocken. Als würden sie, wenn sie aussteigen, tatsächlich in ein Lummerland katapultiert werden, wo es nichts gibt, außer dem wegfahrenden Zug. Unsere Welt teilt sich nun in drei Kategorien: Die Menschen mit Reservierung. Die Menschen ohne Reservierung mit einem Platz. Die Menschen in den Gängen – die Unerwünschten.

Vor unserem Abteil im Gang steht eine junge Frau. Sie schaut ängstlich. „Wo soll ich denn jetzt hin“, sagt sie. Es ist Sonntagnachmittag. Draußen regnet es. Niemand steigt aus. Wieder kommt die Durchsage: „An alle, die stehen. Bitte verlassen Sie den Zug. Wir fahren sonst nicht weiter.“
„Vielleicht steige ich aus“, überlegt auf einmal eine Frau mit feinem Mantel neben mir. „Ich muss eh noch umsteigen. Vielleicht kann ich das ja schon von hier. Dann sind wir eine weniger.“ „Seien Sie lieber vorsichtig“, sagt die Frau mit der Reservierung. „Wer weiß, ob noch andere Züge fahren.“ „Was passiert denn, wenn niemand aussteigt?“, frage ich. „Dann rufen sie die Polizei. Die zieht die Menschen aus den Gängen“, sagt die Frau mit Reservierung.

Zwischen unseren Sitzen im Abteil ist eine Holzablage, breit genug für jemanden zum Sitzen. Ich schaue die junge Frau im Gang an: „Hier, setz dich doch zu uns rein. Dann musst du nicht raus.“ Die Frau kommt dazu, wir rücken zusammen. „Ich war noch nie zu siebt unterwegs“, sagt die Frau mit der Reservierung. Sie lacht. Die Stimmung im Abteil entspannt sich. Schokolade geht rum. Wir gefallen uns darin, nett zueinander zu sein, als hätten wir dem System so eins auswischen können.

Doch der Zug steht. Keiner geht. Und deswegen geht es nicht voran. Als wäre diese Szene eine Metapher für große Fragen der Gesellschaft: Wer nimmt persönliche Einbuße für das Weiterkommen der Gemeinschaft in Kauf? Wenn nur jeder an sich denkt, leiden am Ende alle darunter. Doch alle warten ab. Keiner traut sich mehr, auf Toilette zu gehen. Als könnte einem der Platz unter dem Hintern weggezogen werden, sobald er nicht mehr beschützt wird.

„Ich gehe“, sagt die Frau im Mantel neben mir plötzlich. Die anderen schauen sie ungläubig an, als wäre sie blöd oder etwas naiv.
„Doch“, sagt sie fest. „Ich gehe. Sonst wird es ja nicht besser, sonst geht ja gar nichts los.“ Sie betritt den Flur. Sofort schlüpft jemand aus dem Gang auf ihren Platz. Ich bin beeindruckt. Die Frau macht deutlich, dass jedes Anrecht auch ein willkürliches ist. Dass draußen nicht Lummerland ist. Draußen ist das Leben, mit dem wir alle in unserer eigenen kleinen Welt verbunden sind.

Foto: Christa Pfafferott, Symbolbild, Anzeige von müdem Zug-Personal nach einer langen Zugfahrt

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